Der Richtige zur richtigen Zeit
Der Autor und Politiker Dieter Lattmann ist jetzt 90 Jahre alt
Über die Feier zum 90. Geburtstag des VS-Gründungsmitglieds Dieter Lattmann am 15. Februar 2016 hat KUNSTUNDKULTUR in der letzten Ausgabe bereits berichtet. Hier dokumentieren wir die Rede von Eva Leipprand, Vorsitzende des Verbands Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, im Münchner Literaturhaus.
Es war im September 1992, also vor mehr als zwanzig Jahren, lieber Dieter, dass wir gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des bayerischen VS zu einem deutsch-rumänischen Kulturtreffen nach Siebenbürgen fuhren – eine Reise voller Fremdheit und poetischer Verunsicherung, die ich nie vergessen werde. Der Bus, mit rätselhafter Verspätung eingetroffen, fuhr uns viele Stunden durch die Nacht, mit dem Fahrer war keine Verständigung möglich, schon gar nicht über die Einhaltung der von der Gewerkschaft vorgeschriebenen Lenkzeiten; in der Morgendämmerung wurde irgendwo in Ungarn ein Mensch zur Ablösung aus einem Plattenbau geklingelt. Und als dann bald darauf das Bestechungsgeld für den Grenzübertritt nach Rumänien eingesammelt wurde, gerieten die moralischen Koordinaten der deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller vollends ins Wanken.
Dann, schon in Siebenbürgen, die Stimmung zwischen Erschöpfung und Erwartung schwankend, fuhr der Bus in eine über die Straße laufende Schafherde und hupte derart rabiat, dass die Tiere in verschreckten Sätzen auseinanderstoben. Der Hirte, wütend, holte mit seinem Stock aus und schlug gegen die Frontscheibe des Busses, sternförmig breiteten sich Risse über die gesamte Fläche. Der Fahrer brachte den Bus zum Stehen, sprang aus der Tür und stürzte sich auf den Hirten, der, trotzig aber ohnmächtig, den Kopf einzog. Welche Reaktion war jetzt von uns gefordert? Aller Augen richteten sich wie selbstverständlich auf Dieter Lattmann, und er nahm die ihm angetragene Führungsrolle geduldig an. Wir sahen ihn mit Hirt und Fahrer inmitten aufgeregter Menschen in einer Amtsstube verschwinden, und nach allem, was ich erinnere, hat man nicht ohne Erfolg ein gutes Wort für den Hirten eingelegt, der von uns anmaßend anrollenden Deutschen in seinem ländlichen Frieden gestört worden war.
Dann entfaltete sich unter den baufälligen Türmen der Kirchenburg von Katzendorf ein phantastisches Fest, berauschend in jeder Beziehung, und mit allen Sinnen war zu erleben, wie Kultur, Literatur und Politik ineinanderfließen und sich gegenseitig bedingen. Vieles, was wir sahen und hörten, rüttelte an unseren Prinzipien; das Deutschlandbild der Siebenbürger Sachsen erschien uns fremd; die Art, wie die Rumänen über die Sinti sprachen, war nicht unser politisch korrekter Ton. Da war es gut, dass es bei den Rundtischgesprächen Dieter Lattmann gab - seine liebe Frau Marlen immer an seiner Seite -, der über die Fähigkeit der politischen Analyse, aber zugleich auch über die einfühlende und differenzierende Sprache der Literatur verfügte.
„Ich kann Politik und Literatur nicht trennen“; mit diesem Satz beschreibst Du Dich selbst in Deinem Buch „Einigkeit der Einzelgänger“, das ich in Vorbereitung des heutigen Abends noch einmal gelesen habe, staunend angesichts der Fülle des Erlebten und Geleisteten und voll Bewunderung für den klaren, jedes Klischee vermeidenden Stil, der vor keiner Wahrheit Halt macht, auch vor keiner Selbsterkenntnis, so tiefgehend sie sein mag. Dieser Stil prägt Deine politische Arbeit und macht auch Deine Bücher so lesenswert. In diesem Lebensrückblick blättert sich die literarische Welt der Nachkriegszeit in aller Fülle auf, alle die großen Namen der Autoren und Verleger, die blickerweiternde Reise um die Welt, die Gründung des VS, die politische Verantwortung im Bundestag, die klare Positionierung auf der linken Seite der Sozialdemokratie, in ungeheuer spannenden und aufreibenden Jahren, dann wieder das Schreiben, auch über das in der Politik Erlebte, die vielen Freunde, die verschiedenen Phasen der Friedensbewegung, die Arbeit für das Goetheinstitut, über viele Jahrzehnte das unablässige Zusammenführen von Menschen, die in die gleiche Richtung dachten. Und die in regelmäßigen Abständen erscheinenden Bücher, „Die gelenkige Generation“, „Mit einem deutschen Pass. Tagebuch einer Weltreise“, „Die Einsamkeit des Politikers“, „Die Brüder“, „Jonas vor Potsdam“ und andere mehr, jedes für sich ein eigenes Ab- und Überschreiten der Grenzen zwischen Literatur und Politik. Das ist miterlebte, mitgestaltete Zeitgeschichte, und man kann daraus viel lernen über das Ineinanderwirken unterschiedlicher Kräfte in der Politik und ihren kulturellen Hintergrund. Und wie wichtig es ist, eine klare Haltung zu haben.
Du warst ganz offensichtlich der richtige Mann zur richtigen Zeit. Dies können wir insbesondere als Mitglieder des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber unserem Ehrenvorsitzenden mit Dankbarkeit konstatieren. Als Gründungsvorsitzendem des VS ist es Dir gelungen, nicht nur die Einzelgänger der Literatur zu einer (gewissen) Einigkeit zu führen, sondern auch Literatur und Politik in eine fruchtbare Beziehung zu setzen. Was das für ein Kraftakt war, kann man in Deinem Buch nachlesen. Es galt, etwas ganz Neues zu schaffen, Schriftsteller und Gewerkschaftsgedanken zusammenzubringen, zwischen den unterschiedlichsten Interessen und Persönlichkeiten zu vermitteln. Die Auseinandersetzungen müssen kräftezehrend gewesen sein. Aber es hat sich gelohnt, das Bild des armen Poeten ist abgelöst durch das der selbstbewussten Urheberin; die für alle Kulturschaffenden segensreiche Künstlersozialkasse wie auch die Bibliothekstantieme sind für immer mit Deinem Namen verbunden.
Als der Kanzler zu den Schriftstellern kam, wie Du schreibst, im Jahr 1970, da platzte die Stuttgarter Lieder- Es galt, etwas ganz Neues zu schaffen, Schriftsteller und Gewerkschaftsgedanken zusammenzubringen, zwischen den unterschiedlichsten Interessen und Persönlichkeiten zu vermitteln.

| FOTO: BLEICHER-NAGELSMANN
Dieter Lattmann.
halle aus allen Nähten, Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser traten als Redner auf. Willi Brandt sprach zum Thema Geist und Macht, die Pole verkörpert durch Literatur und Politik. Was waren das für Persönlichkeiten, was für existentielle Debatten, was für symbolische Gesten damals, die größte kurz darauf Brandts Kniefall in Warschau. Die Literatur wusste klar Stellung zu beziehen. „Eine deutliche Zeit“, schreibst Du, „bringt eine deutliche Literatur hervor.“ Wäre Ähnliches heute noch vorstellbar? Kann man das heute noch sagen: der Gegensatz zwischen Geist und Macht? Da müsste man ja erst einmal wissen, wo sie heute überhaupt liegt, die Macht, ob noch in den Händen der Politik oder nicht schon längst bei der Ökonomie, und ob wir bei der Durchökonomisierung unserer Gesellschaft nicht alle irgendwie mitspielen, so dass der Widerspruch, zugespitzt formuliert, auch in jedem von uns selber zu finden wäre? Und von Geist spricht heute keiner mehr, sondern von Kreativität, und die wird gerade von den mächtigen Konzernen magnetisch angezogen, sie saugen das Kreative ein in das herrschende ökonomische System, ein Phänomen, das der Kultursoziologe Andreas Reckwitz mit dem Begriff des „ästhetischen Kapitalismus“ zu fassen versucht. Es sind die klügsten Köpfe, die die Entwicklung vorantreiben in Richtung Digitalisierung, Überwachung und Lenkung der Menschen bis zur Künstlichen Intelligenz. „Es war einmal das Individuum“, war kürzlich ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung überschrieben, es war einmal das Individuum, das ein ganzes Leben lang versuchte, an sich zu arbeiten, Zusammenhänge zu erkennen, eine Haltung zu entwickeln und vor sich selbst zu bestehen. Soll das wirklich Vergangenheit sein?
Wenn Geist und Macht nicht mehr die Gegenspieler sind, wer ist es dann? Wo ist die Front? Unsere ist keine deutliche Zeit. Schon wenn man über die Einstellung von Autorinnen und Autoren zum elektronischen Publizieren spricht, ein auf den ersten Blick überschaubares Thema, scheint die Lage diffus. Ist Amazon nun Freund oder Feind? Wie ist das mit dem Plattformkapitalismus – wollen wir ihn bekämpfen oder daran partizipieren? Der Buchmarkt verändert sich in rasender Geschwindigkeit. In der Unübersichtlichkeit fällt die Orientierung schwer. Aber das ändert nichts an der Größe der Aufgabe – hier geht es um die wesentlichen Zukunftsfragen, nicht nur der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sondern auch der Gesellschaft. Wir brauchen neue Narrative – ein etwas abgenutzter Begriff, aber doch sehr passend, wenn es um die Rolle der Schriftsteller geht –, neue Erzählungen, Deutungsversuche in der Unübersichtlichkeit, Suchbewegungen in Richtung Sinn, die die diffusen Partikel in einen bedeutungsvollen Zusammenhang bringen, das ist der Job der Schreibenden. Deshalb ist ein Buch ja nicht nur Ware, sondern auch Träger von Werten und Sinn, ein Kulturgut.
Weil die Gesellschaft spürt, dass sie Alternativen zum herrschenden System braucht, dass der freie Fluss der Meinungen, die Vielfalt der Kulturen und Perspektiven für sie lebenswichtig sind, deshalb schützt sie das Buch als Kulturgut. Damit das Buch Kulturgut bleibt, brauchen wir einen wirksamen Schutz des geistigen Eigentums, des Urheberrechts in allen seinen Aspekten, starke, unabhängige Autorinnen und Autoren. Hier auf jeden Fall scheint mir eine klar erkennbare Front zu sein, an der es sich lohnt zu kämpfen. So gesehen ist der VS als Berufsverband und als politische Stimme wichtiger denn je und tut gut daran, Dein Lebenswerk, lieber Dieter, zu ehren und fortzuführen. Gemeinsam mit den Autorenverbänden der Schweiz und Österreichs und dem Bundesverband junger Autoren werden wir demnächst auf der Leipziger Buchmesse eine gemeinsame Erklärung abgeben, die die Bedeutung des Buches als Kulturgut zum Inhalt hat.
„Wohl dem, der einen Zusammenhang hat“, schreibst Du, lieber Dieter, in Deinem Buch. Ein Satz zum Merken. Dein Leben ist eine Erzählung mit Zusammenhang, mit Bedeutung nicht nur für Dich, sondern vor allem auch für uns. Ich danke Dir auch noch für eine andere Formulierung. „Was hat das Alter für einen Sinn, wenn es nicht frei macht?“ - ein kleiner Edelstein, den ich mir immer wieder einmal anschauen will. In Deinem neuen Buch wirst Du uns über diese Freiheit des Alters erzählen. Ich freue mich darauf.

Tanja Pohl: „Halle“.